Ist mein Glaube ortsgebunden?

Kaaba, Mekka, 2014 (c) Adnan Ahmad Siddiqi

Ich war über die Weihnachtsfeiertage in Pakistan und hatte dort ein interessantes Gespräch mit einem meiner Cousins. Er wird bald in die USA ziehen und ich fragte ihn, ob er sich schon darüber freut und aufgeregt ist. Er meinte, er habe überhaupt keine Lust und möchte viel lieber in Pakistan bleiben. Auf meine Frage hin wieso meinte er folgendes: „Ich habe Angst, dass ich meine Nähe zum Glauben verliere“.

24/7 Glaube

Er war der Meinung, dass Pakistan ein islamisches Land ist, hier hört er ständig den Gebetsruf, er hat Moscheen an jeder Ecke und kann beten gehen, er kann alles essen, er ist immer vom Islam umgeben und wird somit immer seinem Glauben nahe sein. Aber ist dem wirklich so? Ist man „gläubiger“, bzw. weniger „gefährdet“ vom Glauben abzukommen, wenn man in einem Land lebt, wo der Glaube im Vordergrund steht?

Dies war eine sehr interessante Aussage. Sie ließ vor allem mich über mich selber und meinen Glauben nachdenken. Ist mein Cousin „gläubiger“ als ich, weil er in Pakistan lebt und ich automatisch weniger gläubig, weil ich in Österreich bin?

Pakistan – Ein islamisches Land

Es stimmt, dass Pakistan ein islamisches Land ist. Es ist sogar so, dass Pakistan das einzige Land in der heutigen Zeit ist, welches auf Basis des Glaubens erschaffen wurde. Am Ende der Kolonialzeit hat man die Regionen, welche eine muslimische Mehrheit aufwiesen, als Basis zur Gründung eines islamischen Staates genommen. So entstand Pakistan, welches damals noch Bangladesh also „Ost-Pakistan“ inkludierte, sich später aber unabhängig machte. Auch wenn Pakistan auf dieser Basis entstand und die Mehrheit der dort lebenden Muslime sind und Islam somit der „offizielle“ Glaube des Landes ist, ist der Islam nicht die Basis für die Staatsführung. Wie in so ziemlich allen Ländern der Welt ist Religion und Staat auch in Pakistan von einander getrennt. Ja, es gibt religionsbezogene Parteien, doch sind diese nicht, die, die das Land auch führen. Es ist eine Demokratie im westlichen Sinne.

Trotz allem sind viele Muslime aus Indien in das neu gegründete Land ausgewandert und haben sich dort niedergelassen, Gemeinschaften gebildet, Moscheen gebaut und ein Wirtschaftssystem entwickelt. Das Land selber läuft aber nicht auf Basis des Islams. Dies ist weder eine positiv oder negativ gemeinte Meinung, sondern ein Fakt.

Zurück zur eigentlichen Frage: Ist man nun gläubiger, wenn man in einem Land mit einer gewissen religiösen Mehrheit aufwächst und diesem Glauben folgt, als in einem, wo man mit seinem Glauben eine Minderheit darstellt?

Außerhalb eins islamischen Landes

Wie von mir schon erläutert, bin ich in Österreich geboren und aufgewachsen. Mein Vater kam 1972 nach Österreich. Zu seiner Zeit kannte er nur die Muslime, welche mit ihm nach Österreich kamen. Es gab keine Moschee, geschweige denn Geschäfte, wo man Halal-Fleisch oder ähnliches fand. Der Islam selber war als Religion in Österreich bereits anerkannt, dies war also kein Thema. Es gab eine gewisse türkische Gemeinschaft und mit der Zeit fanden sich die Leute durch Mundpropaganda.

Wo kann man beten? Was kann man essen? Wo kann ich zu Eid hingehen? Die Menschen, welche zu dieser Zeit nach Europa kamen, kannten auch nur das System und die Kultur aus ihrem Land. Es war alles neu für sie. Trotz allem, sind sie aber ihrem Glauben gefolgt. Die Menschen die kamen, brachten ihren Glauben mit sich und mit der Zeit wuchs die Gemeinschaft, es entstanden Geschäfte und Gebetsräume und es integrierte sich immer mehr und mehr. Das heute auf dieser Basis eine andere politische Diskussion läuft, möchte ich in diesem Beitrag außen vorlassen.

Ein Leben in Angst

Meine Eltern haben mich islamisch erzogen. Koran lesen, beten, fasten, es wurde mir als Teil meines Lebens beigebracht. Doch auch meine Eltern hatten stets die Befürchtung, ich würde mich vom Glauben entfernen, weil ich nicht in Pakistan, sondern in Österreich aufwachse. Genau wie mein Cousin, er würde seinen Glauben verlieren, würde er nicht mehr in seiner Heimat sein.

Je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde es mir. Aus irgend einem Grund herrscht eine gewisse „Angst“ in Menschen in Bezug auf ihren Glauben. Eine Angst des Verlustes, des Abschweifens vom „richtigen“ Weg. Doch woher kommt diese? Was ist die Basis für so eine Angst?

Ein Freund von mir ist vor ca. zehn Jahren nach Österreich gezogen. Er hat geheiratet und heute haben sie zwei Töchter. Als sie Kinder bekamen, begann seine Frau ein Kopftuch zu tragen. Sie meinte, sie habe „Angst“, dass ihre Kinder nicht islamisch aufwachsen und sie möchte ihnen zeigen, was im Glauben wichtig ist. In Pakistan aber trägt sie kein Kopftuch. Denn da ist sie in einem „islamischen Land“. Hier hat sie keine Angst, denn sie ist ja von ihrem Glauben umgeben. Ist es das, was uns der Islam lehrt?

Der Prophet Mohammed (saws) lebte in Mekka, als er den Islam kommunizierte. In Mekka wurde er für seinen Glauben verfolgt und gefoltert. Man wollte ihn töten, weil er der Religion der Vorfahren nicht folgte, sondern etwas „Neues“ lehren wollte. Sein eigener Onkel war sein größter Verfolger. Während er in Mekka die Hoffnung verlor und nicht mehr weiter wusste, entstand in einer Stadt weit entfernt von ihm eine Gemeinschaft, die ihn verstand. In Medina entwickelte sich eine Gefolgschaft, ohne ihm jemals dort gewesen zu sein. Sie erkannten ihn als Propheten und wollten ihm Schutz gewähren. Die islamische Zeitrechnung beginnt auch mit dem Tag, an dem der Prophet (saws) Mekka verlässt und nach Medina aufbricht. Dort wurde er mit offenen Armen empfangen und konnte den Islam lehren und ausbauen.

Diese Tatsache und vor allem die Tatsache, dass die islamische Zeitrechnung mit einer Auswanderung beginnt, belegen meiner Ansicht nach ganz klar, dass der Glaube nicht an einer Örtlichkeit gebunden sein kann. Der Prophet Mohammed (saws) liebte Mekka und kehrte auch desewegen zurück. Die Auswanderung war ein sehr großer Schritt für ihn. Doch lebte er bis zu seinem Lebensende in Medina.

Gerade dieser große Schritt der Auswanderung und die damit verbundene Reise und Hindernisse, welche der Prophet Mohammed (saws) in dieser Zeit überwinden musste, bis er in Medina ankam, sollten für uns Muslime ein Zeichen sein, dass der Weg des Glaubens, nie ein leichter sein wird und stets mit Prüfungen und Verlockungen versehen sein wird. Der Prophet Mohammed (saws) hätte jederzeit umdrehen und aufgeben können. Doch er tat es nicht, denn in seinem Herzen war er fest davon überzeugt, dass es der richtige Weg war.

Der Ursprung der Angst

Die Angst meines Cousins, meiner Eltern oder auch meines Freundes beruht meiner Ansicht nach auf eine ganz simple Sache: Nach einer gewissen Zeit verschmilzt Religion mit der Kultur und dem Alltag. Es wird zu einem Teil des Lebenszyklusses und die Menschen nehmen nicht mehr war, was ist Glaube und was ist Kultur. Im Ramadan fastet man halt, wieso, fragt keiner mehr. Beim Opferfest wird ein Tier geschlachtet, was ist aber die Basis davon? Die Auswahl des Tieres und dessen Pflege und behutsame Erziehung stehen im Vordergrund und sind das Ereignis des Jahres für die Kinder. Wieso aber, fragt niemand. In den Schulen selbst gibt es gar keinen Islam-Unterricht.

Man befürchtet also, wenn man von diesen kulturellen Gegebenheiten nicht mehr umgeben ist, wird man auch nicht mehr nach dem Islam leben. Doch nicht alle leben nach diesem „Kultur-Religions“ Motto. Die High Society von Pakistan unterscheidet sich nicht von anderen Ländern der Welt. Man führt ein beschwingliches Leben. Man könnte nicht sagen, aus welchem Land diese Personen stammen. Diese Menschen leben in Pakistan, aber nicht im „islamischen“ Pakistan. Auch hier meine ich dies nicht beurteilend, es ist ein Fakt.

Angst ist in meinen Augen etwas, was wir Menschen uns selbst erschaffen. Angst ist zu 100% künstlich. Sie existiert nicht von selbst. Sie existiert nur solange wir sie „füttern“. Ich denke da an die Szene aus „Kevin allein zu Haus“. All die Jahre fürchtet sich Kevin davor in den Keller zu gehen, weil er sich einbildet, der Ofen würde ihn fressen. Als der Tag dann aber kommt, sein eigenes Haus zu verteidigen, sagt er ganz lässig zu ihm, er soll ihn in Ruhe lassen und die Angst ist weg.

Der Angst stellen

Persönliches Wachstum erreichen wir nur, wenn wir uns unserer Angst stellen. Denn die Angst haben wir uns selbst erzogen. Wie alles im Leben, stellt die Angst eine von uns selbst auferlegte Prüfung dar. Ja, Angst ist bis zu einem gewissen Grad gut, aber zur selben Zeit müssen wir bereit sein, uns dieser zu stellen, wenn der Zeitpunkt kommt.

Ist Religion ortsgebunden?

Ich muss zugeben, als ich von der Hajj-Reise zurück kam, habe ich selbst oft darüber nachgedacht. Wieso sollte ich überhaupt noch woanders hinfahren? Dort ist der Ursprung des Islams, man hat alle Stätten an einem Ort, der Glaube ist in der Luft. Jedoch habe ich dann überlegt und die Hajj-Reise ist nur eine der fünf Säulen des Islams. Man könnte also sagen, dir Örtlichkeit entspricht mathematisch gesehen nur 20% des Glaubens. Jedoch stimmt dies auch nicht ganz, denn im Koran sagt Allah:

Kapitel 3, Vers 97: „Darin liegen klare Zeichen. (Es ist) der Standort Ibrahims. Und wer es betritt, ist sicher. Und Allah steht es den Menschen gegenüber zu, daß sie die Pilgerfahrt zum Hause unternehmen – (diejenigen,) die dazu die Möglichkeit haben. Wer aber ungläubig ist, so ist Allah der Weltenbewohner Unbedürftig.“

 Wenn überhaupt also, ist es nur vorgesehen, ein Mal in seinem gesamten Leben diese Reise durchzuführen. Wenn man nun die durchschnittliche Lebenserwartung in Betracht zieht, sprechen wir von einem nicht einmal wahrnehmbaren Prozentsatz!

Mekka ist aus Glaubenssicht der mit Abstand wichtigste Ort für Muslime. Selbst der Prophet Mohammed (saws) ging nur einmal auf die Pilgerreise, um den Menschen dies zu beweisen und ihnen nicht mehr aufzuerlegen. Doch auch hier verlangt Allah eine Reise nur einmal im Leben und dies auch nur, wenn man die finanziellen Mittel dafür hat.

Es hatte also bestimmt einen guten Grund, weswegen Allah diese Reise an den wichtigsten Ort für nur einen Besuch im Leben vorgesehen hatte. Vermutlich um uns genau dies vor Augen zu führen, dass die Örtlichkeit keine Rolle in der Auslebung des Glaubens spielt. Es ist unser Wille, unsere Überzeugung, unsere persönliche Bereitschaft, nach dem Glauben zu leben und nur so können wir auch jeglichen Zweifel, jegliche Angst in dessen Bezug besiegen.

Religion kann und darf nicht ortsgebunden sein. Ja, es gibt Orte, welche für den jeweiligen Glauben in der historischen, bzw. religiösen Entwicklung eine Rolle spielen und dies ist auch in Ordnung. Meine geographische Nähe zu diesen Orten darf aber keinen Einfluss auf mein Ausleben des Glaubens haben.

Ich muss nicht in Mekka sein um zu beten. Ich muss beten, um in Mekka zu sein.

 

 

 

 Quelle:

https://quran.com/3/97

 

 

 

 

 

 

 

 


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